Xavier de le Rue hat eine Menge erlebt im Laufe seiner Karriere. Wir wollten wissen, wie dieser Ausnahme-Freerider tickt und haben ihn zum Interview gebeten.

Du hast Big Mountain Snowboarden in den letzten Jahren maßgeblich geprägt und gepusht. Das wäre nicht möglich gewesen, hättest du nicht immer wieder deine Grenzen ausgetestet und überschritten. Wie viel von dem Vertrauen in deine Fähigkeiten resultiert aus Erfahrung, wie viel aus Improvisation und der Hoffnung, dass es schon gut gehen wird?

Beim Big Mountain Snowboarding kannst du nur zu einem kleinen Teil improvisieren. Der wichtigste Teil ist die Analyse im Vorfeld, ein Part, der wirklich nervenaufreibend sein kann. Solange immer alles gut geht, vergisst man leicht, wie schnell sich eine Situation ändern kann. Damit am Ende alles funktioniert, musst du zwei Herangehensweisen miteinander verbinden. Zum einen den analytischen Teil, bei dem du alle Risiken, Wetterdaten, Gefahrenlagen etc. in Betracht ziehst. Was kann passieren, warum kann es passieren und was kannst du im Ernstfall tun? Hast du das getan, kommt der intuitive Teil deines Gehirns zum Zug. Du weißt, was dich erwartet, jetzt musst du dich darauf einlassen und deine Instinkte übernehmen lassen. Das Zusammenspiel von Intuition und Analyse macht Freeriden so unglaublich spannend.

Hat sich deine Einstellung gegenüber den Gefahren, denen du bereit bist dich auszusetzen, geändert?
Ja, auf jeden Fall. Ich liebe es noch immer, Risiken einzugehen, das ist ein Teil dessen, was mich ausmacht. Aber die Gründe, warum ich Risiken eingehe, haben sich geändert. Lange Zeit hatte ich das Gefühl, ich müsste mich beweisen, mich immer wieder aufs Neue herausfordern und pushen. Dieses Bedürfnis habe ich heute nicht mehr und ich sehe schnell, wenn ich einen Schritt zu weit gehe. Dann ziehe ich zurück und versuche es an einem anderen Tag. Das macht einen großen Unterschied und eliminiert die extra zehn Prozent Risiko, die eine Sache schnell unnötig gefährlich werden lassen. Alles in allem bin ich heute wohl ein bisschen vernünftiger.

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Short Cuts Xavier de le Rue

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Im Laufe deiner Karriere hast du einige heftige Slams überstehen müssen und wurdest von Lawinen mitgerissen. Bist du jemals an einen Punkt gekommen, wo du dich ernsthaft gefragt hast, ob du nicht ein wenig langsamer machen solltest?
Nach meinem Lawinenunfall [Xavier wurde 2008 im südlichen Wallis von einer zwei Kilometer langen Lawine verschüttet. Er überlebte nur dank der schnellen Rettung durch seinen Freund Henrik Windstedt und seinem ABS-Rucksack; Anm. d. Red.] war mein erster Gedanke: Du musst damit aufhören, es ist lächerlich, dich solchen Gefahren auszusetzen. Noch heute merke ich, wie sich solche Gedanken einschleichen, besonders dann, wenn ich weit weg von Bergen und Schnee bin. Du unterhältst dich mit Leuten, zeigst deine Filme und wirst immer wieder darauf angesprochen, wie verrückt das alles ist. Auf einmal siehst du die Berge nur noch als etwas Gefährliches. Doch sobald ich wieder in ihnen unterwegs bin, meine ersten Runs fahre, fühle ich mich gut und das Selbstvertrauen kehrt zurück. Je mehr Zeit ich in den Bergen verbringe, desto größer ist mein Vertrauen. Je weiter ich weg bin, desto stärker beginnen die Zweifel in mir aufzusteigen.

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Gutes Material ist das A und O beim Freeriden. Mit deinem langjährigen Sponsor Rossignol tüftelst du schon lange deine eigenen Bretter und Bindungen aus. Wie lange dauert es, bis du neues Material mit in die Berge nimmst?
Um ehrlich zu sein, teste ich neues Material nur ein paar Mal, bevor ich es ins Gelände mitnehme. Das Team, mit dem ich bei Rossignol arbeite, macht einen sehr guten Job und über die Jahre haben wir eine Beziehung aufgebaut, bei der beide Seiten genau wissen, was die andere will. Jedes Mal, wenn sie mit einer neuen Technologie zu mir kommen, braucht es höchstens hier und da einen kleinen Tweak. Was die Sicherheit und Zuverlässigkeit der Produkte betrifft, vertraue ich dem Team voll und ganz, denn bevor ein Produkt die Fabrik verlässt, muss es einige harte Tests durchlaufen. Was Snowboards betrifft, sind wir auf einer Wellenlänge. Deshalb funktionieren diese Bretter so gut! Wir arbeiten aktuell wieder an der nächsten Generation der XV-Boards und ich freue mich schon darauf, wenn sie auf den Markt kommen.

Hast du jemals eine Line nicht fahren können/wollen, weil du deinem Material nicht getraut hast?
Es ist schon vorgekommen, dass ich abbrechen musste, weil sich eine Bindung bewegt hat, was bei einer großen Line ziemlich schnell verdammt sketchy wird. Aber das passiert äußerst selten. Daher, nein, ich vertraue meinem Equipment. Und bevor ich mich an die großen Lines wage, habe ich meine Ausrüstung schon viele Tage in den Bergen benutzt. Du startest ja nicht in eine neue Saison mit einem neuen Board an den Füßen und droppst sofort in die größte Line, die du findest. Du musst dich mit Brett, Bindung, Boots etc. wohlfühlen, genau wissen, wie sich das Material verhält. Und das erreichst du nur, indem du so viel wie möglich Snowboarden gehst.

Ein weiterer wichtiger Aspekt beim Freeriden ist die Crew. Worauf kommt es dir dabei an?
Das hängt davon ab, was ich vorhabe. Wenn es in hochalpines Gelände geht, bin ich wählerischer, denn die physischen wie psychischen Anforderungen sind enorm und du benötigst eine Menge Wissen. Wenn ich in Chamonix bin, wende ich mich meistens an meine zwei guten Freunde Alex Pittin und Anthony Lamiche. Sie leben in Chamonix, wissen eine Menge über Wetter, Berge und Schnee und sind erfahrene Alpinisten. Sie bringen mich zu Lines, die ich sonst nur fahren könnte, wenn ich selbst sehr viel Zeit dort verbringen würde. Aber ja , die Auswahl der Crew ist ein Schlüsselmoment, denn die Leute in deiner Crew können dich dazu bringen, Dummheiten zu machen oder dich davor bewahren. Du musst auch ihren Fähigkeiten vertrauen, denn wenn sich jemand aus der Gruppe in Gefahr bringt, bringt er die gesamte Crew in Gefahr. Es wird ja niemand einfach zurückgelassen, in einer Crew kümmert man sich um den anderen. Du willst ja nicht, dass dein Buddy in einer Gletscherspalte endet.

Wie gehst du damit um, dass du nicht mehr nur für dich alleine verantwortlich bist, sondern alles, was du tust, Auswirkungen auf deine Familie hat?
Ja, das ist wirklich hart. In den Bergen zu sterben ist mein schlimmster Albtraum. Seit ich Vater geworden bin, habe ich die Risiken, die ich bereit bin einzugehen, angepasst. Ich kann noch immer Großes tun, mit dem Unterschied, dass ich heute noch mehr darauf achte, dass die Voraussetzungen optimal sind. Dadurch bin ich weniger hektisch geworden, denke die Sachen gründlicher durch. Das hat mir viel Sicherheit gebracht. Und das ist auch etwas, was ich an meine Tochter weitergebe: Wenn du vor einer risikoreichen Sache stehst, zieh dich nicht sofort zurück. Versuche, die Situation zu verstehen, zu analysieren, denke über deine Möglichkeiten nach und triff dann eine Entscheidung.

In deiner Youtube-Serie „How to“ erklärst du verschiedene Aspekte des Freeridens. Warum hast du damit angefangen und was möchtest du den Leuten mitgeben?
Ich war es leid, nur Material zu veröffentlichen, das zeigen soll, wie stark man ist, wie viel Glück man hatte, wie cool man ist und so weiter. Ich wollte etwas tun, bei dem ich den Leuten etwas von meinen Erfahrungen aus den letzten 25 Jahren weitergeben kann.

Was ist dir dabei am wichtigsten?
Ich versuche, die Episoden so ernst wie nötig zu halten und gleichzeitig nicht allzu ernst zu sein. Denn natürlich muss man Fragen der Sicherheit ernst nehmen, aber gleichzeitig sollte man sich selbst auch nicht allzu ernst nehmen. Sonst wird es schnell lächerlich. Am Ende willst du immer noch Spaß dabei haben. Ich versuche, die Balance zwischen diesen beiden Punkten zu finden und den Leuten die nötigen Tools zu vermitteln, die sie benötigen, um rauszugehen, sich selbst ein wenig zu pushen und mehr über die wunderbare Welt der Berge zu lernen. Denn egal, ob das Wetter gut oder schlecht ist, Neuschnee oder nicht, jeder Tag draußen ist eine coole Erfahrung.

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Wir haben über Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten gesprochen, Vertrauen in das Material, was ist mit dem Vertrauen in die Natur? Es mag ein wenig spirituell klingen, aber vertraust du darauf, dass du, wenn du der Natur mit Respekt begegnest, sie dich gut behandeln wird?
Für mich war es schon immer so, dass du, wenn du dich in den Bergen aufhältst, eine Beziehung mit ihnen aufbaust. Respekt gegenüber der Natur ist wichtig und du solltest ihn in der Art zeigen, wie du dich da draußen verhältst. Ich spreche in Gedanken immer mit dem Berg und versuche auf eine Art zu zeigen, dass ich dankbar dafür bin, diese Lines fahren zu können. Das macht jeder auf seine eigene Art und Weise. Ich finde das wichtig, denn wenn du viel Zeit in den Bergen verbringst, spürst du, dass sie lebendig sind und es uns erlauben, wunderbare Erfahrungen zu machen. Selbst wenn es da nichts geben sollte, wird dich eine respektvolle Haltung aufmerksamer machen und zu einer besseren Geisteshaltung verhelfen.

Aus: Prime Snowboarding Magazine #17