Eines vorweg: Travis Rice hat es geschafft, kompetitivem Snowboarden neues Leben einzuhauchen. Es war mit Sicherheit das spannendste Event des Jahres, ein paar Dinge haben uns aber auch gestört.

Seien wir mal ehrlich: professionelles Snowboarden (ja, heutzutage hat es diesen Namen tatsächlich verdient) hat ungeahnte Sphären erreicht und das Tricklevel hat sich langsam aber sicher der Vorstellungskraft des Ottonormalverbrauchers entzogen. Während das Tricklevel exponentiell wuchs, sank leider mit gleicher Geschwindigkeit der Entertainment Faktor und aus kompetitivem Snowboarden wurde Repetitives.

Man musste keine Kristallkugel neben dem Fernseher platzieren, um die immer gleichen Runs der Fahrer voraus zu sagen. Dass die FIS mittlerweile beinahe über die Alleinherrschaft von professionellen Snowboardcontests (zumindest in Europa) verfügt, macht die ganze Sache nicht besser. Zwar wurde diesem allseits bekannten Fakt (vermutlich vor allem aufgrund sinkender Einschaltquoten) durch eine kreativere Kursgestaltung entgegen gesteuert, der erhoffte Erfolg blieb allerdings aus.

Umso mehr sehnte die Snowboard Community ein Format wie die Natural Selection Tour herbei, der Erwartungshorizont war immens und Travis Rice wurde im Vorfeld bereits frenetisch als der Heilsbringer des Snowboardcontests gefeiert.

Natural Selection Recap – eine Offenbarung?

Als ich vor zwei Wochen Freunde fragte, ob sie die X-Games gesehen haben, wussten viele von ihnen nicht mal, dass die gerade stattfinden. Das einstige Jahreshighlight eines jeden Snowboarders war nicht mehr viel mehr wert als eine Randnotiz.

Ganz anders verhielt es sich dagegen mit Travis Rice Contesttour. Hier wurden im Vorfeld Whatsapp Gruppen gegründet, illegale Wettgruppen aufgestellt, Corona konforme Zoomcalls mit dutzenden Mitgliedern veranstaltet um das bedeutungsschwangerste Event des Jahres gemeinsam zu sehen.

Endlose Diskussionen waberten durch das World Wide Web, welcher Fahrer denn das Potential hätte das Event zu gewinnen, wär nicht hätte eingeladen werden sollen und warum zur Hölle eigentlich Arthur Longo nicht dabei war. Aber wurde der erste Tourstop den hohen Erwartungen gerecht? Eine Erörterung folgt!

Natural Selection Recap – eine Erörterung

Die Fahrer/innen

Positiv

Stellt euch vor ihr sitzt im Gremium der Natural Selection und ihr müsst euch auf 16 Fahrer beschränken, die am prätentiösten Snowboardcontest der Welt teilnehmen dürfen. Zugegeben kein sehr dankbarer Job, vor allem nicht in Tagen wie diesen. Es gibt heute beinahe inflationär viel gute Snowboarder, die es verdient gehabt hätten, bei diesem Event dabei zu sein. Insofern beileibe keine leichte Aufgabe.

Und an dieser Stelle ein großes Lob an den Veranstalter: die Liste an Fahrern, die dem Ruf des Travis Rice gefolgt waren, las sich wie das Who is Who der Snowboardwelt. Es war ein feiner Mix aus leistungsfähigen Olddogs , Leuten im besten Snowboardalter, die wohl die besten Backcountry Videoparts der letzten Jahre gefilmt hatten, ein paar Ex-Champions aus dem Contestgame und  wenige noch aktive Contestfahrer.

Gerade dieser gelungene Mix an Fahrern war es, der massenhaft Diskussionen im Vorfeld auslöste. Kann der Freeride World Tour Champion Nils Mindnich den Altmeister Pat Moore schlagen? Und kann Anna Gasser überhaupt powdern? Wie verkauft sich ein Mark McMorris gegen eine Travis Rice?

Hier wurde in der Besetzung beinahe das Maximum rausgeholt. Warum nur beinahe?

Negativ

Wo zur Hölle war eigentlich dieser Arthur Longo?

Der Kurs – Jackson Hole

Positiv

Warum war die Freeride World Tour viele Jahre nicht wirklich attraktiv anzusehen? Die Kurswahl war meistens zu steil für Snowboarder und so wurde es für die teilnehmenden Fahrer schwer, wirklich starke Freestyle Tricks zu zeigen.

Der Kurs in Jackson wurde im Sommer extra so gestaltet, dass die Rider das Maximum rausholen können. Mit dem Tourstop in Jackson Hole wurde die Richtschnur gelegt, wie ein Freeride Contest Run für Snowboarder aussehen sollte.

Wir sind gespannt wie Bald Face und Alaska sich präsentieren wird, dort sind die Hänge um einige Grad steiler, wir werden sehen ob die Attraktivität des Formats darunter leiden wird.

Negativ

Wir befürchten dass vor allem Alaska zu steil sein wird für flowige Freestyle Lines. Aber wir lassen uns gerne eines besseren belehren.

Das Judging

D.A.V.E: Difficulty, Amplitude, Variety, Execution.

Die sehr einleuchtende Eselsbrücke Dave sollte der Leitstern sein für die Judges. Das ist prinzipiell kochen nach Rezept und mag auch in einem genormten Slopestyle Kurs funktionieren, in dem die Fahrer die immer gleichen Features hitten, aber in einem Back Country Terrain mit freier Spurwahl ist das eine andere Geschichte.

Zwar waren die meisten Entscheidungen der Judges nachvollziehbar, sobald die Runs aber knapp oder einfach sehr verschieden waren, wurde es zum Teil extrem intransparent.

Positiv

Die Judges kommunizierten die Kriterien klar mit den Fahrern und bewerteten meistens sehr nachvollziehbar.

Negativ

Zwar betonten die Judges am Anfang des Contest, dass es wichtig wäre seine Runs zu ändern, die Darstellung in den Wertungskatalogen sprach leider eine andere Sprache: versetzte uns Mark McMorris erster Run mit Back to Back 7s noch in Extase, erinnerte er uns, nachdem der Kanadier ihn zum dritten mal in Folge an genau den gleichen Features abgespult hatte, doch wieder unweigerlich daran, warum uns Snowboard Contests so langweilen.

Warum hier ein Mikkel Bang mit seinem Rock Tap (Für uns der Trick des Events) nicht ins Finale geholt wurde, widersprach dem kommunizierten Erwartungshorizont der Punktrichter auf vielen Ebenen. Hier wurde der Punkt der technischen Schwierigkeit ganz klar höher gewertet als die Kreativität und Varietät, das muss beim nächsten Mal unbedingt geändert werden, sonst haben wir in zwei Jahren die X-Games mit Powderlandung.

Außerdem tat es dem Contest nicht gut den Tiebraker, der für viel zusätzliche Spannung sorgte, im Halbfinale zu Gunsten der höheren Score auszuschalten.

Auch wegen dieser nicht nachvollziehbaren, kurzfristigen Änderung des Formats sahen wir langweilige Victory Laps wie zum Beispiel die von Marion Hearty.

Natural Selection recap
McMorris beeindruckte durch technisch anspruchsvolle Runs, war aber auch sehr repetitiv

Die Frauen

Positiv

Im Vorfeld wurde hitzig diskutiert ob die Frauen dem Aufgabenfeld eines von Travis Rice gesteckten Freeride Kurses gewachsen sind? Die Antwort: ein klares Ja!

Extrem beeindruckend war eine Jamie Anderson, die von der Weite und dem Level ihrer Tricks den Männern in nichts nachstand und im Head-to-Head wohl auch den Männern ordentlich Feuer gemacht hätte. Auch eine erst 19-Jährige Zoi Synnott beeindruckte mit fetten Dreiern und Backflips über die massiven Features. Wenn wir hier an McMorris ersten Auftritt beim Super Natural im gleichen Alter zurückdenken, hätte er wohl gegen die Neuseeländerin kein Land gesehen.

Natural Selection Recap
Zoi machte keine Gefangenen in Jackson Hole. Pic: Red Bull

Negativ

Der Niveauunterschied zwischen den Mädels war doch sehr viel größer als zwischen den Männern. Wir hoffen dass die Auftritte einer Zoi Synnott, einer Hanna Beaman, einer Marion Hearty oder einer Jamie Anderson mehr Mädels motivieren öfter ins Backcountry zu gehen. Dann wird hier der Leistungsunterschied in den nächsten Jahren deutlich schrumpfen.

Hier gibt es noch Day 2 in der Review

Wann und wo es weiter geht mit der Natural Selection Tour 2021 erfahrt ihr hier.